Brücke der Trauer

In letzter Zeit sprach ich mit mehreren Klient*innen über das Thema Trauer. Die Frage ist oft, wie man Trauer «verarbeitet», «überwindet», damit «fertig» wird. Ich selbst habe eher die Erfahrung gemacht, dass auch nach den 20 Jahren, die mein Vater nun tot ist, diese Trauer nicht wirklich weg ist. Im Gegenteil, ich stellte in diesen Gesprächen fest, dass ich sie gar nicht «loswerden» will.

Die Trauer hat sich verwandelt, vielleicht habe ich den Verlust «integriert». Anstelle des reinen Schmerzes über den Verlust und die Tatsache, dass das leibliche Gegenüber fehlt, ist das Bewusstsein getreten, dass die Liebe immer noch da ist. Ich bin immer noch traurig darüber, die Freuden und Sorgen meines täglichen Lebens nicht mehr teilen zu können. Keine Umarmung, kein gemeinsames Lachen. Und immer wieder finde ich es furchtbar schade, dass mein Mann und meine Kinder meinen Vater nie kennen lernen durften – obwohl meine Kinder sagen, dass sie ihn kennen.

Zugleich empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich überhaupt diesen besonderen Menschen als Vater haben durfte. Das Gefühl, das heute vorherrscht, ist ein tiefes Berührt-Sein – auf English würde ich sagen awe, aber das deutsche Wort «Ehrfurcht« klingt so «schwer» - darüber, dass in mir immer noch jene Verbundenheit ist, die alle grobstofflichen Grenzen überdauert und auflöst. In dieser Erfahrung erlebe ich, was Ram Dass und viele spirituelle Lehrer als «die Liebe» bezeichnen: diese Kraft, die immer schon da ist. Sie wird uns in der Begegnung mit dem geliebten Menschen nur erst so richtig bewusst. Aber sie war schon immer in uns und um uns. Und sie bleibt deshalb auch in uns lebendig, wenn der menschliche Körper vergeht.

Mein Lehrer Jack Kornfield erwähnt häufig die Lakota Sioux, die denken, dass die Trauernden den Göttern am nächsten sind, genau weil sie sich der körperlichen und zeitlichen Begrenztheit unserer Wahrnehmung bewusst sind.

Unmittelbar nach einem Todesfall fallen viele Menschen in eine Art Depression. Ich habe oft den Spruch gehört: «grief is love with nowhere to go». Da tut sich plötzlich diese Leere auf, ein Nichts. In Johann Hari’s lesenswertem Buch «Lost Connection», in dem er sich mit Depression beschäftigt, nennt er es die «grief exception». Es ist wohl «normal», sich – zumindest für einen gewissen Zeitraum - depressiv zu fühlen, wenn wir trauern. Mit der Zeit «integrieren» wir dann diese Erfahrung in unser Leben und merken, dass es «weitergeht». Dass wir trotz des Verlustes noch Lebensfreude finden können. Das bedeutet aber nicht, dass die Trauer ganz «weg muss», «überwunden» werden muss. Vielleicht sogar im Gegenteil: Hari erzählt von einer Frau, deren Tochter unter grausamen Bedingungen ermordet wurde. Er beschreibt, wie sie den Schmerz über diesen Verlust gar nicht loslassen will, da er ihr hilft, mit einem offenen, mitfühlenden Herzen zu leben. Diese Aussage hat mich sehr angesprochen, denn auch für mich ist die Trauer immer wieder eine Erinnerung an das, was in meinem Leben wirklich zählt.

So hat es mich sehr berührt, als unlängst eine Klientin über den Tod ihrer Mutter zu mir sagte: das Einzige, was im Leben wirklich zählt, ist, ob unsere geliebten Menschen da sind oder nicht. Ob es ihnen gut geht, oder nicht. Das ist auch meine Lebenslehre aus der Tauer: die Prioritäten darauf zu setzten, mit den geliebten Menschen in Verbindung zu sein und für sie da zu sein. Wie Thornton Wilder in seinem berührenden Buch «die Brücke von San Louis Rey» am Ende schreibt: »Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn».

So will auch ich die Trauer gar nicht ganz loslassen: denn sie hilft mir, mich immer wieder mit dieser zeitlosen, allumfassenden, grenzenlosen Liebe zu verbinden, die immer da war und immer sein wird.