Unser Körper als Kompass

«Körperliche Empfindungen sind die Grundlage des menschlichen Bewusstseins» (Levine, 2010, S. 133)

Alle unsere Erfahrungen bestehen aus Empfindungen, Emotionen, Gedanken. Alle Gedanken, Erlebnisse und Gefühle manifestieren sich im Körper. D.h. letztendlich manifestiert sich jede Erfahrung in unserem Körper. Der Körper ist immer im Hier und Jetzt. Somit sind unsere körperlichen Empfindungen häufig ein guter Kompass dafür, wie es uns gerade geht. Wenn wir gestresst sind, stellen wir vielleicht fest, dass wie die Zähne zusammenbeißen oder die Schultern hochziehen. Wenn es uns gut geht, empfinden wir ein warmes weites Gefühl im Brustkorb und fühlen uns entspannt.

Häufig leben wir allerdings "in kurzer Entfernung von unserem Körper» (Joyce, 1914/2001). Wir sind derart in Gedanken und Emotionen vertieft, dass wir unsere körperlichen Empfindungen gar nicht wahrnehmen. Wir sind nicht im gegenwärtigen Augenblick, sondern "gedankenverloren" irgendwo in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Und entsprechend reagieren wir auch nicht adäquat auf den Moment.

Desto mehr wir lernen, unsere körperlichen Empfindungen wahrzunehmen und auf sie zu hören, desto besser können wir lernen adäquat auf eine aktuelle Situation zu reagieren.

Gefühlstonus

Jede Erfahrung hat einen Gefühls-Ton, der im Buddhismus Vedana und in der modernen westlichen Psychologie hedonischer Tonus genannt wird. Dieser Gefühlston ist entweder angenehm, unangenehm oder neutral. Der Gefühls-Tonus wird hauptsächlich von der Gehirnregion der Amygdala, erzeugt und dann auf die anderen an Emotionen beteiligten neuronalen Schaltkreise übertragen. Er ermöglicht es dem Gehirn, uns zum Handeln zu motivieren und uns zu sagen, was wir tun sollen, d.h. unangenehme Situationen zu vermeiden, angenehme zu suchen (siehe «reward based learning». Dieser Mechanismus ist sehr schnell und effizient und wird nach ein paar Wiederholungen automatisch. Er erlaubt es uns, effektiv und effizient zu sein. Er bedeutet aber auch, dass wir oft nach dem Autopiloten handeln, anstatt die spezifischen Anforderungen jeder neuen Situation zu beurteilen. (Feldman & Kuyken, 2019, S. 51ff). Wenn wir uns des Gefühlstonus einer Situation im Körper bewusst werden, können wir wiederum automatisches Handeln vermeiden.

«In der buddhistischen Psychologie sagt man, dass der Gefühls-Tonus das Bewusstsein beherrscht oder regiert (...) Der Gefühls-Tonus ist das erste Glied in der Kette der Reaktivität. Wenn er unterbrochen wird, ist die Kette der Reaktivität unterbrochen». (Feldman & Kuyken, 2019, S. 83)

Autopilot

Aus effizienzgründen führt der Körper eine ganze Reihe von Tätigkeiten automatisch aus (vegetatives Nervensystem), dazu gehören die Verdauung, Reflexe sowie auch die o.g. Stressaktivierung des Körpers. Ausserdem gewöhnen wir uns aufgrund unserer Erfahrungen eine Reihe von Verhaltens- und Denkmustern an, die wir automatisch durchführen. Auch dies ist oft von Vorteil. Wir können z.B. nicht jedesmal neu darüber nachdenken, wie der Weg von Zuhause zum Supermarkt ist oder wie man Schuhe bindet. Diese Automatismen spielen sich aber auch für Verhaltensweisen ein, die nicht unbedingt nützlich und passend sind. Dazu gehören der Umgang mit unangenehmen Emotionen wie Wut und Angst oder Überzeugungen zu Themen wie Leistung, Selbstwert, Anerkennung usw. D.h. einen grossen Teil unserer Handlunge führen wir «automatisch» und nicht bewusst aus. Das ist häufig effizient, ab und an nicht passend und bei gewissen Mustern sogar schädlich.

Wenn wir üben, bewusst auf unsere körperlichen Empfindungen zu achten, können wir erkennen, was gerade abläuft, wie es uns gerade geht und einen Schritt "aus" dem automatischen Modus heraustun und den Umständen entsprechend passender und konstruktiver zu reagieren. So üben wir mit der Achtsamkeit die verschiedenen Regionen unseres Gehirns und unseres Körpers und Geistes zu integrieren und zu unserem "natürlichen" Geisteszustand zurückzukehren, d.h. dem der Reaktionsfähigkeit und des Mitgefühls statt der Reaktivität. (Siegel, Aware, 2018).

Selbstverständlich bleiben gewisse automatische Reaktionen sinnvoll und nützlich: so packt man schnell ein Kind am «Wickel» wenn es auf eine Strasse läuft, oder zieht seinen Finger automatisch von der heissen Herdplatte!

Auf die Weisheit des Körpers vertrauen

«Im Laufe der Jahrtausende wurde die angeborene Intelligenz des Körpers zugunsten der Exklusivität von Rationalität, Symbolen und Sprache aufgegeben» (Levine, 2010, S. 135)

Um die Stimme und die Weisheit unseres Körpers bewusst wahrzunehmen brauchen wir etwas Ruhe und Zeit. Es braucht einen Moment, bis die Aufmerksamkeit im Körper ankommt und zu diesem Moment zurückkehrt. Deshalb üben wir das in der formellen Praxis. Er hilft uns dann im Alltag mal Luft zu holen, die Empfindungen unseres Körpers zu fühlen und ihnen zuzuhören, uns bewusst zu werden, was in unserem Körper in diesem Moment geschieht. Wenn wir die Wahrnehmung für unsere Körperempfindungen so verfeinern, dass es uns auch in schwierigen Situationen gelingt, unsere Körperempfindungen wahrzunehmen, wird unser Körper zum einem wichtigen handlungsleitenden Kompass.

Zwei Flügel der Achtsamkeit: Gewahrsein und Mitgefühl

Ein grundlegendes Element der Achtsamkeitspraxis ist die bereits erwähnte Haltung von Mitgefühl, Freundlichkeit, Wohlwollen, Offenheit, Urteilsfreiheit, Interesse und Akzeptanz. Oft wird von den zwei Flügeln der Achtsamkeit gesprochen: dem Gewahrsein sowie einer Haltung des Mitgefühls. Ohne den Flügel der wohlwollenden Haltung kann die Achtsamkeitspraxis ein reines Konzentrationstraining werden.

Diese Fähigkeit auch unangenehmen Erfahrungen oder sogar Leiden mit Freundlichkeit und Gleichmut begegnen zu können, ist ein wichtiges Element, um Resilienz zu kultivieren.

Neurowissenschaftliche Studien haben ausserdem gezeigt, dass «Interoception», also eine ausgebildete Selbstwahrnehmung zu mehr Selbstregulation und Mitgefühl (also dem Verstehen und Einfühlen in andere) führt (Dan Siegel 2010).

Schmerz

Wenn wir Schmerz und starke unangenehme Empfindungen haben, wie z.B. einen Tinitus, versuchen wir, einen Moment zu verweilen. Wir versuchen, uns mit der Situation anzufreunden, den Schmerz besser kennen zu lernen. Wo spüren wir etwas? Wie fühlt es sich an? Zieht es, brennt es, zwickt es, pulsiert es…..? Vielleicht merken wir, wie der Schmerz sich verändert, vielleicht wird er durch unsere freundliche Aufmerksamkeit erträglicher. Falls der Schmerz sehr unangenehm ist, wird empfohlen, die Aufmerksamkeit auf ein Körperteil zu lenken, welches sich neutral oder sogar angenehm anfühlt. Sollte der Schmerz nicht erträglich ist, sollte man – aus der Haltung des Selbst-Mitgefühls - die Position verändern. Zu keinen Zeitpunkt wird empfohlen, ärztlich verschriebene Medikamente, gegen körperlichen Schmerz oder psychischen Schmerz durch Meditation zu ersetzen, ohne zuvor einen Arzt zu konsultieren.

Die oft erwähnte Gleichung «Schmerz x Resistance = Suffering» gefälllt mir nicht

Mir gefällt besser diese Perspektive: «Schmerz x liebendes Gewahrsein = Raum»

Resilienz kultivieren durch gesunden Lebensstil

Es heisst immer “ein gesunder Geist lebt in einem gesunden Körper”. Wir können Resilienz auch durch Selbstfürsorge und einen gesunden Lebensstil fördern. Wir wissen, wie gereizt, unkonzentriert, Kaffee- oder Zucker-süchtig wir sind, wenn wir zu wenig schlafen. Wir wissen, wie gut wir uns nach einer Sport Session oder einem Spaziergang an der frischen Luft fühlen. Aus Sicht der funktionellen Medizin und der Epigenetik können wir mit verschiedenen Lebensstil Massnahmen einen wesentlichen Beitrag zu unserer physischen Resilienz leisten.

Ankommen im Augenblick -Präsenz - Gegenwärtigkeit

Da der Körper immer im Hier und Jetzt ist, bringt uns die bewusste Wahrnehmung des Körpers in den gegenwärtigen Moment. In der Praxis lernen wir zunächst, den Inhalt unserer Erfahrung zu beobachten - das Pochen unseres Herzens, Enge, Weite, Kribbeln, Ziehen, Brennen usw. in einem bestimmten Körperteil. Wir lernen die Qualität des Atems zu beobachten: die Oberflächlichkeit oder das Rasen unserer Atemzüge, ob der Atem tief ist oder seicht, usw.

Wir können beobachten, dass jede Erfahrung einen Gefühlstonus (Vedana) auslöst. Fast immer ist eine Empfindung im Körper angenehm, unangenehm oder neutral. Wir lernen zu erkennen, dass die Wut sich im Körper z.B. durch Energiewellen, die durch uns fließen manifestiert, dass es eng in unserem Hals oder in unserem Herzen ist, wenn wir Angst haben, oder dass es sich warm und weit in der Brust anfühlt, wenn wir uns freuen. Was auch immer es ist - meistens kann uns der Körper sehr schnell und zuverlässig sagen, wie es uns geht, noch bevor der Verstand es überhaupt wahrnimmt.

So ist die Achtsamkeit des Körpers die Grundlage der Praxis.

Hier findest du eine Audio-Aufnahme der Body Scan Meditation auf Deutsch https://insighttimer.com/ConstanzeLullies/guided-meditations/body-scan-158