Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum - warum finde ich den nur so selten?

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ – Stephen R. Covey nach Viktor E. Frankl ) - REALLY????

Dieser Satz wird in der Achtsamkeitszene immer wieder erwähnt. Ich habe mich immer gefragt, wieso es den anderen Menschen so leicht zu fallen scheint, in diesen Raum zu gehen. Denn mir fällt es unglaublich schwer, zwischen Reiz und Reaktion einen Raum für eine weise – oder zumindest nicht impulshafte – Antwort zu finden. Bei Ken McLeod fand ich endlich eine Antwort!

Aufmerksamkeit (Attention)

«The ability to act and respond (rather than react) depends on the ability to maintain such a level of attention» (McLeod, 2001, S. 51) – die Fähigkeit zu handeln und zu antworten (anstatt einfach nur zu reagieren) hängt von unserer Fähigkeit ab, ein solches Niveau von Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Und mit einem solchen Niveau von Aufmerksamkeit meint McLeod «a level of attention that is not completely absorbed by conditioning» (McLeod, 2001, S. 51). Diese Fähigkeit zur Pause – und damit zu unserer Entwicklung und unserer Freiheit – hängt also von der Fähigkeit ab, ein extrem hohes Niveau von Aufmerksamkeit in allen Lebenslagen – und gerade den stressigen- aufrecht zu erhalten. Hier sprechen wir also von Achtsamkeit in ihrer Reinform! Erst wenn wir – über Jahre – geübt haben diese Aufmerksamkeit zu schulen, wird es uns gelingen, unsere Gewohnheiten und Muster zu erkennen und zu durchbrechen und damit unser Leiden zu beenden – oder zumindest zu reduzieren.

Attention is the ability to experience what arises without falling into the conditioned reactions that cause suffering. Attention is always present in potential but is unable to function because of conditioning” (McLeod, 2001, S. 27)

Gewahrsein (Awareness)

Ein hohes Niveau an Aufmerksamkeit ist die Grundlage für Gewahrseins (awareness). Dieses Gewahrsein wird oft als der „Zeuge“, der „Beobachter“ definiert. Gewahrsein bedeutet, dass unsere Aufmerksamkeit offen bleibt, ohne an Mustern haften zu bleiben, ohne durch die Brille alter Gewohnheiten zu blicken. Es wird mit einem Spiegel verglichen, der alle Dinge zurückwirft und selbst unverändert bleibt, egal welche Bilder, ob schön oder schrecklich, er reflektiert. Manchmal wird es mit dem weiten, offenen Himmel verglichen, der sich unabhängig von den Phänomenen, die sich manifestieren, nicht verändert. (Kornfield, 2008, S. 39).

Achtsamkeit (Mindfulness)

Im Yoga Sutra von Patanjali heisst es «Yoga chitta vritti nirodaha» - Yoga (und hiermit ist Meditation und Absorption und nicht Asana Praxis gemeint) beruhigt die Bewegungen des Geistes. Es geht auch in der Achtsamkeits Meditation durchaus um das Beruhigen und Verlangsamen der Bewegungen des Geistes. Allerdings nicht indem wir auf Teufel komm raus, versuchen, unsere Gedanken zu kontrollieren oder uns zu entspannen. Denn es wird nicht funktionieren: wir haben keinen Kontrolle über das Leben und nicht mal über unseren nächsten Gedanken. In der Achtsamkeits Meditation geht es vielmehr darum, uns mit unserem Geist anzufreunden, indem wir unsere Aufmerksamkeit derart schulen, dass wir in der Lage sind unsere Erfahrungen bewusst wahrzunehmen ohne von Vorstellungen, Mustern und Glaubenssätzen getrübt zu sein, sodass wir uns nicht immer wieder in Gedanken und Mustern verstricken und verheddern. Immer wieder werden wir feststellen, dass unser Geist macht was er will: «Somewhere in this process, you will come face to face with the sudden shocking realization that you are completely crazy. Your mind is a shrieking, gibbering madhouse on wheels barreling pell-mell down the hill, utterly out of control and hopeless. No problem. You are not crazier than you were yesterday. It has always been this way and you never noticed.” Henepola Gunaratana

 Achtsamkeit kultivieren

Wenn es uns allerdings immer wieder mal gelingt, diesen durchgeknallten Geist mit Freundlichkeit und Geduld zu betrachten – ohne uns in Urteile, Glaubenssätze und ähnliches zu verstricken – wird unser Geist immer wieder einmal klar und ruhig werden. Und wenn der Geist in sich selbst ruht, wie es so schön heisst, entstehen automatisch die heilsamen Qualitäten von Frieden, Wohlwollen, Mitgefühl und Mitfreude.

Um in diese Ruhe zu kommen kultivieren wir unsere Aufmerksamkeit in der Achtsamkeitspraxis auf unterschiedliche Weise:

  • Fokussierte Aufmerksamkeit bedeutet, die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt der Aufmerksamkeit zu lenken, z.B. auf den Atem oder auf die Körperempfindungen

  • Freundliche Absicht bedeutet die Kultivierung von Emotionen und Geisteszuständen wie Freundlichkeit, Mitgefühl und empathische Freude

  • Offenes Gewahrsein bedeutet, sich nicht mit dem Objekt der Achtsamkeit zu identifizieren, sondern der – freundliche, wohlwollende - Beobachter zu werden

Die Qualitäten des Gewahrseins

Wenn wir diese Aufmerksamkeit ungetrübt halten können, wenn "der Geist in sich selbst ruht", ensteht immer wieder das offene Gewahrsein wenigstens in Ansätzen. Es hat folgende Eigenschaften:

·       Das Gewahrsein ist frei von jeglicher Form. Es ist „leer“ bzw Potenzialität.

·       Gewahrsein ist erkennend, wissend oder wach.

·       Gewahrsein manifestiert sich als Mitgefühl, das bedingungslose Liebe, Freude und die vielen anderen heilsamen Qualitäten des Herzens einschließt (die uneingeschränkte Fähigkeit des Gewahrseins). (Brach, True Refuge, 2013, S. 280)

“Through emptiness we awaken to the nature of experience. Through compassion we awaken to experience as it arises. Without compassion, we are unable to open to the totality of experience. Without emptiness we cannot be free of habituated patterns«.” (McLeod, 2001, S. 33).

Alle drei Faktoren des Gewahrseins führen letztlich zur Befreiung des Geistes von Anhaftungen und Mustern

·       Leere: all unsere Erfahrungen sind veränderlich und letztlich endlich

·       Einsicht: wir erkennen die Bedingtkeit unserer Muster und Gewohnheiten

·       Mitgefühl: wir sind bereit das Herz auch in Mitten von Leiden offen zu halten in der Erkenntnis, dass wir letztlich alle eins sind und das die Natur des Geistes frei ist. 

«As we practice attention, we see the conditioning that runs our lives more and more clearly. We see how our reactions and conditioned behaviours create difficulties and suffering for everyone, including us. First we are not able to change our behaviour, but continued work in cultivating attention eventually opens up the possibility of acting differently. (…) we realize that we can life and function in the world without relying on conditioned behaviours and self imaged underlying them” (McLeod, 2001, S. 36)

Hier wird deutlich, dass Achtsamkeit uns helfen kann, diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion mit viel Geduld, Wohlwollen und Mitgefühl zu betreten und auszuweiten. Wie Ken McLeod sagt: mit der Zeit ensteht die Möglichkeit, anders zu handeln. Desto öfter es uns gelingt in diesem Raum einen Moment zu verweilen, erkennen wir, dass es zwischen richtig und falsch einen Ort gibt, an dem Begegnung stattfinden kann, mit dem, was uns wirklich wichtig ist und mit dem Gegenüber. Einen Raum, in dem Heilung – von alten Mustern und Gewohnheiten, die immer wieder zu leiden führen – statt finden kann. Wie Rumi schreibt:

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort kann Begegnung stattfinden. Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt. Zwischen Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort werden wir uns begegnen.“ (Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, 13. Jhd.) 

So ist das Ziel der Achtsamkeitspraxis nicht so sehr, dass wir uns kontrollieren und mal abschalten, sondern es geht vielmehr darum, uns durch das Kultivieren unserer Aufmerksamkeit in einen Zustand von offenem Gewahrsein zu bringen, welcher uns hilft, bewusster zu handeln, freier zu werden, zu unserem eigenen Wohl und dem Wohl aller fühlenden Wesen zu heilen.